Kurzgeschichte - Simana

Veröffentlicht am 9. April 2024 um 14:47

Einige führten es auf Glück zurück, während andere von einem Wunder oder von der schützenden Hand Gottes, die über dem Kind wachte, sprachen. Wieder andere lobten das schnelle Denken der Mutter, die instinktiv ihr Baby in ein Gebüsch warf, weit weg von den nahe gelegenen Häusern. Die Nazis marschierten in das Dorf ein, um alle Bewohner, die sie finden konnten, zu sammeln: die Jungen, die Alten, die Mütter, die Väter, die Großeltern. Haus für Haus wurde durchsucht und es wird erzählt, dass viele noch vor Ort getötet wurden, während andere wie Vieh zusammengetrieben und ins Ungewisse abtransportiert wurden.

Es geschah in einem kleinen Dorf im Norden Bosniens, nahe der kroatischen Grenze, welches lediglich von Bauerfamilien bewohnt wurde. Einfachheit, Ruhe und Unscheinbarkeit zeichneten die Lebensweise der ärmlichen Gemeinschaft aus. Doch als die Schatten des Krieges über das Land zogen, wurde es zu einem Ort des Schreckens und der Verzweiflung.

Nachdem die Plünderer abgezogen waren, hinterliessen sie eine Ruine aus zerstörten Häusern und geraubten Existenzen. Bewohner und Bewohnerinnen aus einem benachbarten Dorf suchten verzweifelt nach Überlebenden inmitten der Trümmerlandschaft. Die genaue Anzahl derer, die dem Grauen entkommen waren, ist zumindest heute ­unbekannt. Aber eines steht fest: In dieser verwüsteten Kulisse, gezeichnet von Leid und Verlust, erwies sich Simana, das Baby, das von seiner Mutter versteckt wurde, als Lichtblick der Hoffnung. Sie wurde von ihrer Tante entdeckt, die zuvor geheiratet und infolgedessen ins benachbarte Dorf gezogen war.

Simana fand ein neues Zuhause bei ihrer Tante und ihrem Onkel. Damit begann ein neues Kapitel in ihrem Leben. Trotzdem gibt es kaum Bilder von Simana in ihrer Jugend. Die wenigen existierenden Aufnahmen zeigen oftmals eine ältere Dame, ihr Gesicht von Falten und Bräune gezeichnet, mit einem locker sitzenden Tuch um den Kopf. Einige Strähnen ihres braungrauen Haares entweichen dem Kopftuch und rahmen ihr Gesicht ein, das von hohen Wangenknochen und dunkelbraunen Augen geprägt ist. Eine unerklärbare Strenge zeichnet ihre Stirnlinie, doch in ihren Augen liegt ein wohlwollender Blick, der von einem Leben voller Herausforderungen und Überlebenskampf erzählt. Auf den ersten Blick wirkt sie wie eine zierliche Großmutter, der man gerne über die Straße helfen würde. Doch ihre Hände, ihre Haltung und ihr Blick verraten eine unerschütterliche Entschlossenheit und die Fähigkeit, jede Aufgabe anzupacken, die das Leben ihr entgegenwirft. Diese ältere Dame ist weit mehr als nur eine, die eine Straße allein überqueren kann. Und die Merkmale, die man aus dem Bild entnehmen kann, scheinen Zeugen dafür zu sein.

Bei der andauernden Betrachtung des Bildes haftet weiterhin ein ambivalentes Gefühl beim Versuch ein Urteil zu treffen. Die Gesichtszüge der Frau malen ein Bild von einer müden, aber kräftigen Person. Schnell kommt man zum Schluss, dass diese Frau in jüngeren Jahren wunderschön ausgesehen haben musste. Wie viele hatte sie mit der natürlichen Anmut in ihrem Bann gezogen? Doch dann durchbricht der darauffolgende Gedanke diese erste Einschätzung. Dies ist jemand, der kaum den Luxus hatte, sich herauszuputzen oder gross Wert auf ihr Äusseres zu legen. Gerade als diese Gedanken sich beim Betrachten langsam festigen, fragt man nach ihrem Alter und erfährt, dass sie mit 61 verstorben ist. Auf dem Foto war sie geschätzt knapp 60 Jahre alt. Das Gefühl der Ambivalenz verstärkt sich, fliesst in Unglauben über, während es mit der Skepsis in Konvektion gerät, wie Ströme, die miteinander verwoben sind. Dies führt schließlich zu einer widerstrebenden Akzeptanz, als ob sich zwei gegensätzliche Winde treffen und sich zu einem ungewissen Zustand vermischen. Die Frau, der man zuvor nur schmeichelnd positive Attribute angeheftet hat, scheint mit ihren etwa 60 Jahren auf dem Bild viel zu alt auszusehen. So muss es wohl sein. Denn welches andere Ergebnis wäre realistisch, wenn man ein Leben in Armut, harter Arbeit und Kriegszeiten gelebt hat und der Körper mit der Zeit die Belastungen offenbart?

Es ist bedauerlich, dass Simana kaum etwas hinterlassen hat. Das Schreiben fiel ihr wahrscheinlich schwer. Nur zwei bis drei Jahre Schulbildung habe sie erhalten, bevor die Lebensumstände sie davon abhielten. Kein Tagebuch, keine Briefe, kaum Dokumente oder Bilder blieben von ihr zurück. Ihren drei Kindern teilte sie nur wenig über sich selbst mit. Stattdessen sprach sie lieber über Blumen im Hof oder die anstehende landwirtschaftliche Arbeit. Arbeit war der Mittelpunkt ihres Lebens. Ihr Mann verstarb früh, und sie heiratete nie wieder. Vier Kinder mussten versorgt werden, wobei das zweite eines Tages einem Fieber erlag. Simana kümmerte sich um die täglichen Aufgaben wie das Melken der Kühe, das Sammeln von Eiern, das Pflegen des Gemüsegartens, des Flicken der Kleidung, das Backen des Brotes und das Stricken der Socken. Später war sie oft tagelang auf Wanderarbeit unterwegs und hoffte, dass ihre kleinen Kinder zu Hause zurechtkamen.

Jahre vergingen, die Kinder wurden zu Erwachsenen, die eigene Kinder hatten und Simana blieb allein auf dem Hof zurück. Sie arbeitete weiterhin auf dem Feld. Eines Tages kam die jüngste Tochter zu Besuch, wie sie es oft tat. Doch dieses Mal fand sie ihre Mutter nicht arbeitend vor, sondern liegend in der Nähe des Stalls. Die Arbeit fand nun ein Ende. Möge sie im Tod Ruhe finden.

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