Wissenschaft und der zeitgenössische Kontext

Veröffentlicht am 26. März 2024 um 15:20

Die Geschichte der Geschichtsschreibung der Französischen Revolution als Konfliktfeld der Ideologien

In der heutigen Zeit ist es (fast) allgemein anerkannt, dass eine vollständige Objektivität kaum zu erreichen ist. Unsere Sichtweise wird massgeblich von unserem Umfeld, unserer Kultur, individuellen Vorlieben, politischen Überzeugungen, zwischenmenschlichen Beziehungen und vielen anderen Einflüssen geprägt. Unglücklicherweise ziehen einige Menschen eine radikale Schlussfolgerung aus dieser Erkenntnis und glauben grundsätzlich nichts mehr (ausser es passt zu ihren subjektiven Erfahrungen oder ihrem eigenen Weltbild). Dieses Thema lassen wir jedoch bei dieser Betrachtung beiseite und widmen uns der Wissenschaft. Genauer gesagt geht es heute um die Geschichtswissenschaft. Anhand der Französischen Revolution soll ein Beispiel gegeben werden, wie stark wir alle von unserer eigenen Zeit beeinflusst sind. WissenschaftlerInnen sind hiervon nicht ausgenommen. Doch das bedeutet nicht, dass diese nun Papier und Feder – bzw. Laptop und Kaffeetassen – beiseitelegen sollen. Vielmehr ist es wichtig zu erkennen, dass auch eigene Meinungen, die Sozialisierung und auch die politische Überzeugung in die Forschung einfliessen. Der Umgang mit dieser Erkenntnis muss bewusst konstruiert und transparent kommuniziert werden.

Im deutschsprachigen Raum hat die Französische Revolution heute nicht mehr den hohen politischen Stellenwert wie in der Vergangenheit. Anders sieht es in Frankreich aus. Als 2014 das Computerspiel Assassin’s Creed Unity veröffentlicht wurde, das die Französische Revolution in Paris darstellt, waren empörte Stimmen zu hören. Der uns heute noch bekannte Politiker Mélechon kommentierte das Spiel mit den Worten: «Je suis écœuré par cette propagande.» Er verurteilte offen die Darstellung der Revolution, die scheinbar lediglich als blutig, brutal und tyrannisch präsentiert wurde. Robespierre sei geschmacklos als der Bösewicht charakterisiert. Die Franzosen würden bald nichts mehr haben, auf das sie stolz sein können, denn zur Identifikation bliebe ihnen nur noch die Religion und Hautfarbe. Die semantische Stärke des Begriffs «Revolution» wird nicht nur von Tech-Gurus genutzt, um ihre Produkte als die neueste High-End-Entwicklung zu vermarkten, sondern ist auch in der Politik immer noch präsent. Macron bezeichnete 2017 seine damals präsentierte Finanzreform als eine Revolution. Wie gerecht er damit dem Begriff damit wurde, ist fraglich.

Die Französische Revolution 1789-1799

Die Französische Revolution war ein bedeutender gesellschaftlicher Umbruch Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich, der durch wirtschaftliche Ungleichheit, politische Unterdrückung und soziale Unzufriedenheit ausgelöst wurde. Sie führte zur Abschaffung der Monarchie, zur Entstehung der Republik und zu weitreichenden Veränderungen in der französischen Gesellschaftsstruktur.

Was ist der Materialismus?

Der historische Materialismus ist eine marxistische Theorie, die besagt, dass die Entwicklung der Gesellschaft hauptsächlich durch den Fortschritt der Produktivkräfte und den daraus resultierenden sozialen Klassenkampf bestimmt wird, wobei die materiellen Bedingungen der Produktion den Verlauf der Geschichte prägen

Die Geschichte der Geschichtsschreibung - Historiographie

Die Geschichte der Geschichtsschreibung umfasst die Entwicklung und Methoden, mit denen Menschen historische Ereignisse interpretieren, aufzeichnen und analysieren. Sie spiegelt die kulturellen, politischen und intellektuellen Strömungen einer Zeit wider und verdeutlicht, wie verschiedene Perspektiven und Narrative die Wahrnehmung der Vergangenheit prägen können.

Die Forschung zur Französischen Revolution fand gewiss nicht nur in Frankreich statt. Sie war Bestandteil von Forschungen in Grossbritannien, den USA, der DDR, der Sowjetunion und vielen anderen Staaten. Wie es in der Wissenschaft sein sollte, war auch die Französische Revolution Gegenstand einer grossen Debatte. Viele Fragen, Fakten und Interpretationen waren bei weitem nicht geklärt und so widmeten sich viele ForscherInnen der Aufklärung der Geschichte der Revolution. Dieses Streitthema ist keineswegs neu. Kurz nach dem Ausbruch der Revolution gab es viele Diskussionen darüber. Politiker wie Edmund Burke (1729-1797) oder Thomas Paine (1737-1809), einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten, versuchten die Revolution zu verstehen und Lehren daraus zu ziehen. Auch Schriftsteller wie Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) und Georg Büchner (1813-1837) konnten die Revolution nicht ohne Kommentar lassen. Die einen sahen die Revolution als die grosse Befreiung der Nichtadligen, die unter dem Joch der Monarchie gelitten und gehungert haben, andere erkannten darin lediglich einen blutigen Akt des Terrors, und wieder andere verstanden sich irgendwo in der Mitte. Die Meinungen waren gespalten, und diese Spaltung verfolgt uns teilweise bis heute. Besonders präsent war die Spaltung der Meinungen zwischen den 1960er und Ende der 1980er Jahre. Die Wissenschaften polarisierten sich vor allem auf zwei Seiten, die als ein Spiegel der zeitgenössischen Welt verstanden werden können. Der Kalte Krieg war im Gange und forderte viele Opfer in den Stellvertreterkriegen, die Politiker warfen sich gegenseitig Verrat und Imperialismus vor, Demonstrationen in den Strassen weltweit waren an der Tagesordnung, und an den Universitäten stritt man sich über Theorien und Methoden. Die kommunistischen Länder folgten nicht nur politisch dem Marxismus, sondern auch im wissenschaftlichen Bereich. Dies bedeutete eine (mehr oder weniger) strikte Methode des Materialismus. Auf der anderen Seite waren die westlich-liberalen Wissenschaftler, die sich oft vom Marxismus distanzieren wollten und der Gegenseite Dogmatismus vorwarfen.

 

Für die Geschichtsforschung zur Französischen Revolution bedeutet dies, dass man auch hier vor allem zwei Seiten festmachen konnte, die auch politische Tendenzen hatten. Das erste und ältere Lager war das der Marxistinnen bzw. Materialistinnen, die den Klassenkampf in der Revolution betonten. Das neuere Lager, das wissenschaftlich als strukturanalytisch bezeichnet werden kann, aber vor allem unter dem Label revisionistisch bekannt wurde, bestand aus Wissenschaftlerinnen aus dem Westen, d. h. den USA, Großbritannien und der BRD. Das marxistische Lager fand seine WissenschaftlerInnen in der DDR und der Sowjetunion.[1]

 

Frankreich als das betroffene Land galt zugleich als Herzstück der Geschichtswissenschaft rund um die Revolution. Tatsächlich findet man hier auch die bekanntesten Vertreter beider Seiten. François Furet war wahrscheinlich der bekannteste Vertreter der revisionistischen Schule, Albert Soboul der marxistischen Gegenseite.[2] So gab es immer wieder Seitenhiebe und auch heftige, verbal-akademische Angriffe auf die Gegenseite. Um der Wissenschaft willen gab es jedoch auch Annäherungsversuche. Genauer gesagt, gab es drei organisierte Kongresse, bei denen WissenschaftlerInnen aus der ganzen Welt eingeladen wurden.

 

Einer dieser schriftlich dokumentierten Kongresse war der Bamberg-Kongress 1979. Dieser erstreckte sich über mehrere Tage und behandelte unterschiedliche Themen rund um die Französische Revolution. Dazu gehörten die Rolle der Bauern und ihre Aufstände vor dem Ausbruch der Revolution, die Frage nach der Rolle der Bourgeoisie in der Revolution, die kulturellen Aspekte während der Revolution und auch die Frage nach der Beziehung zwischen Kapitalismus und Revolution. Es wurden auf beiden Seiten kleinere Zugeständnisse gemacht, aber im Grossen und Ganzen unterschied man sich vor allem in der Interpretation der Geschichte. Obwohl beide Seiten über die gleichen Faktenlagen und Forschungsergebnisse verfügten, kamen sie zu unterschiedlichen Ergebnissen. Dies ist der interessante Punkt, der aus solchen Zusammenstössen hervorgeht. Natürlich lebt die Wissenschaft von Debatten, Uneinigkeiten und problemorientiertem sowie lösungsorientiertem Vorgehen. Doch wenn man das Protokoll des Bamberg-Kongresses liest, lässt sich nicht leugnen, dass die politischen Überzeugungen der anwesenden Wissenschaftlerinnen eine Rolle bei der Interpretation ihrer Ergebnisse spielten. Diese Verhärtung der Fronten führte teilweise zu sehr absurden Aussagen, da man sich unbedingt von der Gegenseite distanzieren wollte. Eine Darstellung geht sogar so weit, dass sie praktisch das Leiden und Hungern der betroffenen Menschen als irrelevant für den Ausbruch der Revolution betrachtete. Dies zeigte sich auch in den Reaktionen nach dem Kongress. Von politisch linken bis zu rechten Zeitungen gab es Angriffe, Kritiken und Spott für die Gegenseite. Zwar gab es auch Positionen, die die Wissenschaft als das ansahen, was sie ist – ein Ergebnis aus unterschiedlichen Vorschlägen, die kollidieren und schrittweise zur Wahrheit führen – und den Bamberger Kongress als gelungenen Austausch lobten. Der Kongress liess die Teilnehmenden nicht kalt und viele von ihnen hatten die Früchte der Debatten mitgenommen und in ihren zukünftigen Arbeiten integriert und veröffentlicht. Eine Einigkeit im grösseren Rahmen gab es jedoch auch Jahrzehnte danach nicht mehr. Mit der Auflösung der Sowjetunion und dem Mauerfall änderte sich nicht nur das politische System der jeweiligen Gesellschaften, sondern auch die Wissenschaft erlebte einen Paradigmenwechsel. Die jahrzehntelang hitzig debattierte Interpretationsfrage verlief im Sande, und die Zeit kümmerte sich um das Übrige. Zwar sind heute noch einige dieser Fragen nicht abschliessend geklärt, doch die Flamme um die Thematik scheint fast ganz erloschen zu sein.

 

Dieser Einblick in die Geschichtsschreibung der Französischen Revolution zeigt die Komplexität historischer Interpretationen. Die Vielfalt der Perspektiven ist anzuerkennen, die eigenen Voreingenommenheit bewusst zu machen und die Bedeutung von Debatten und Diskussionen in der Wissenschaft richtig einzuordnen. Auch heute werden Individuen von Einflüssen nicht verschont, und ein/e WissenschaftlerIn ist trotz der Suche nach der objektiven «Wahrheit» immer noch ein Individuum.

 

Wer sich selbst ein Bild von der hitzigen Debatte machen möchte und selbst beurteilen möchte, ob es nun tatsächlich fruchtbar war, dem verlinke ich den Zugang zu einer meiner akademischen Arbeiten, welche die Thematik weiter ausführt. Dort sind auch alle Quellenangaben – unter anderem das Protokoll des Bamberg-Kongresses – zu finden.

 

 

Anmerkungen:

[1] Sehr wenige WissenschaftlerInnen aus der Sowjetunion fanden Gehör im Westen. Die Zusammenarbeit war durch die politische Lage erschwert.

[2] Theoretisch lässt sich das marxistische Lager in zwei weiteren Untergruppierungen unterteilen. Die erste Gruppe bildet die französisch-sozialistische Seite, die in einem unstetigen Austausch mit sowjetischen und ostdeutschen Intellektuellen stand (Walter Markov aus der DDR und Anatolji Ado aus der UdSSr waren eine der wenigen, die im Westen wahrgenommen wurden). Eine weitere Gruppe stellen vor allem englischsprechende, marxistische WissenschaftlerInnen dar, die sich als weniger dogmatisch bezeichnen. Bekannte Vertreter waren Eric Hobsbawm und Edward Thompson.

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